Wie menschenwürdig ist der Regelsatz?
Wieso wollen wir uns freiwillig beschränken?
Die Idee entwickelte sich in den letzten 3 Monaten. Einerseits führen wir seit Januar im Auftrag des statistischen Bundesamtes ein detailliertes Ein- und Ausgabenbuch. Die Ausgaben dienen dabei u.a. als Grundlage für die Berechnung von Sozialleistungen.
Anderseits ist seit Januar 2023 die Inflation nun auch bemerkbar in unserem Geldbeutel angekommen. Grundsätzlich kaufen wir nach Aktionsangeboten ein. Seit Anfang des Jahres kann man jedoch klar sagen: Aktionsangebote sind mittlerweile teurer als die Normalpreise der Produkte noch im Dezember 2022. Preissteigerungen von Lebensmitteln, die wir regelmäßig konsumieren, liegen teilweise bei über 200 %. Immer öfter kam mir die Frage in den Sinn, wie kommen Menschen mit geringem Einkommen oder gar Bürgergeld über die Runden?
Es kann jeden treffen
Die Zeiten, in denen Sozialhilfebezieher mit Alkoholikern, Arbeitsverweigern und Sozialschmarotzern gleichgesetzt wurden, sind endgültig vorbei. Die Schublade erschien mir schon immer sehr fragwürdig. Aktuell kann ich aus meiner ehrenamtlichen Arbeit bei der Tafel sowie im Pflegeheim klar sagen, es trifft vor allem alte Menschen, explizit alte weibliche Menschen. Sie haben Kinder großgezogen, den Haushalt geschmissen, dem Mann den Rücken freigehalten. Teilweise sind mir noch Frauen begegnet, die aus den Trümmern des Krieges unser Land im wahrsten Sinne des Wortes aufgebaut haben. Sie haben so viel geleistet, aber leider nur wenig in die Rentenkasse eingezahlt und somit leben sie im Alter meist von Grundsicherung. Sie sind über 90 Jahre alt und leben in Armut. Ich schäme mich unendlich für unsere Sozialpolitik.
Bürgergeld? und was ist mit den Bürgerinnen?
Nun heißt ja Sozialhilfe nicht mehr Hartz IV, sondern Bürgergeld. Wie konnten sich die Kreatoren (nicht Kreaturen) im Jahr des Genderwahnsinns diesen namentlichen Fauxpas leisten? Wenn dann doch bitte konsequent Bürger- und Bürgerinnengeld oder BürgerInnengeld oder Bürger*innengeld.
Bürgergeld erhalten arbeitsfähige Personen, entweder als volle Leistung oder als aufstockende Leistung zu einem Arbeitseinkommen. Grundsicherung erhalten arbeitsunfähige Personen (z.B. Rentner). Die Höhe beider Leistungen ist identisch. Einheitlicher Regelsatz plus individuelle Wohnkosten.
Der Regelsatz beträgt für einen Single 502 EUR, für Paare 451 EUR/pro Person und für Kinder gestaffelt nach Altersstufen 318 EUR, 348, EUR oder 420 EUR.
Ist arbeiten noch lukrativ? Ein Vergleich mit zweitem Blick
Seit Einführung des Bürgergeldes und Erhöhung der Regelsätze kommt es zu verschärften Diskussionen. Die Einen sagen, viel zu wenig, die Anderen sagen viel zu viel, da lohnt sich arbeiten nicht mehr. Ganz oft sehe ich dann eine Vergleichsberechnung einer Familie mit 2 Kindern und einer fiktiven Wohnbelastung von 900 EUR pro Monat:
Familie 1 Bürgergeld
Elternteil 1 Regelsatz 451 EUR
Elternteil 2 Regelsatz 451 EUR
Kind 1 (2 Jahre) 318 EUR
Kind 2 (6 Jahre) 348 EUR
Wohnkosten fiktiv 900 EUR
Bürgergeld insgesamt 2468 EUR
Familie 2 Arbeitseinkommen
Elternteil 1 Minijob 520 EUR
Elternteil 2 netto 1448 EUR
Kindergeld 250 EUR
Kindergeld 250 EUR
Einkommen 2468 EUR
Augenscheinlich haben beide Familien das gleiche Monatseinkommen. Eine Familie muss dafür 200 Stunden pro Monat arbeiten, die andere Familie erhält das Geld vom Staat. Doch wie so oft, trügt der erste Blick und es lohnt sich noch etwas genauer hinzuschauen, bevor man Ungerechtigkeit ausruft.
Auch Familie 2 hat aufgrund des geringen Einkommens für 4 Personen die Möglichkeit Bürgergeld zu beantragen. Das Nettoeinkommen, welches Familie 2 erarbeitet wird nämlich nicht komplett angerechnet. Es wird noch um Freibeträge bereinigt. Grob überschlagen ergibt sich auch für die arbeitende Familie 2 ein Anspruch auf aufstockendes Bürgergeld von ca. 370 EUR.
Damit hätten sie monatlich 2738 EUR zur Verfügung.
Würden sie in meine Beratung kommen, würde ich Familie 2 jedoch empfehlen, vorerst Wohngeld und Kinderzuschlag zu beantragen und nur im Notfall Bürgergeld. Der Vorteil ist, dass nur Personen mit Einkommen (Arbeit, Rente, Unterhalt) Wohngeld und/oder Kinderzuschlag beantragen können. Familie 1 steht dieser Weg nicht offen. Sie sind gezwungen Bürgergeld zu beantragen.
Wohngeld und/oder Kinderzuschlag ist deutlich lukrativer. Bei ihrer Einkommenslage sind hier je nach Wohnort ca. 900 EUR für sie drin.
Ihr monatliches verfügbares Einkommen wäre demnach 3368 EUR.
Deutlich mehr als das Bürgergeld der Familie 1.
Tatsächlich sieht es auf den ersten Blick so aus als würde sich Arbeit nicht mehr lohnen. Der zweite Blick verrät jedoch, dass sich Arbeit sehr wohl lohnt, weil Geringverdienern lukrativere Sozialleistungen offenstehen.
Wer denkt an die Senioren?
Diese Vergleichsrechnungen sind sehr einseitig. Sie orientieren sich ausschließlich an arbeitsfähigen Menschen. Wir übersehen bei dieser Gegenüberstellung erneut die „Alten“. Sie haben genug gearbeitet.
Natürlich erhalten sie kein Bürgergeld. Ihre Sozialleistung nennt sich Grundsicherung. Anderer Name, gleicher Inhalt. Die Höhe der Grundsicherung entspricht exakt der Höhe des Bürgergeldes.
Das ist nach meinem Gerechtigkeitsempfinden grundlegend falsch. Der Gedanke mutierte zur Frage:
Schaffen wir es von dem im Regelsatz enthaltenen Pauschalbetrag für Lebensmittel, Getränke und Tabakwaren zu leben? Gesund zu leben?
Unsere Regelsätze wären: Frank 451 EUR Rosi 451 EUR Luna 348 EUR
Welcher Betrag ist im Regelsatz für Lebensmittel vorgesehen?
Der Regelsatz setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen. Lebensmittel, Kleidung, Friseur, Bildung usw. Eine sehr gute Liste ist hier zu finden: https://www.buerger-geld.org/regelsatz/
Für Lebensmittel, alkoholfreie Getränke, Tabakwaren sind 34,7 % des Regelsatzes vorgesehen.
Entspricht jeweils pro Monat 156,50 EUR für mich und Frank sowie 120,76 EUR für Luna, insgesamt 433,76 EUR.
Hört sich doch ganz gut an. Im März muss das für 31 Tage reichen. Somit dürfen wir insgesamt 13,99 EUR pro Tag für Lebensmittel und Getränke ausgeben. Für uns alle. Schluck. Das hört sich jetzt gar nicht mehr gut an. Lunas „Essensanteil“ wird pro Tag mit 3,90 EUR angesetzt. Das muss ein kinderloser Mensch ausgerechnet haben. Jeder der Kinder hat, weiß, sie futtern wie neunköpfige Raupen.
Mein erster Gedanke: Puh, glücklicherweise rauchen wir nicht. Mein zweiter Gedanke: Gurke und Paprika werden von der Einkaufsliste gestrichen. Mein dritter und zeitgleich Lunas erster Gedanke: Hilfe, was ist mit Süßigkeiten? Wir werden furchtbar unterzuckern…..
Eine (un)gesunde Herausforderung?
13,99 EUR für 3 gesunde Mahlzeiten am Tag. Frank und ich halten das für deutlich zu wenig. Ich befürchte, dass bei diesem Betrag nicht viel frisches Grünzeug oder Obst auf unserem Speiseplan steht. Vor einem Jahr wäre es vermutlich leicht gewesen, doch seit Obst und Gemüse dermaßen teuer geworden ist, halte ich es für Luxusware.
Wie lange werden wir versuchen uns auf Bürgergeldniveau zu ernähren?
Wir haben uns keinen Zeitrahmen für unseren Versuch gesetzt. Ich habe jedoch für mich beschlossen, ihn umgehend abzubrechen, wenn ich merke, dass es der Gesundheit nicht förderlich ist, weil wir nur noch Brot, Nudeln und Pizza essen können. Ja, mittlerweile sind ekelhafte Fertigprodukte deutlich preiswerter als frisch gekochte. Das war in meinem Leben noch nie der Fall. Fertigprodukte waren immer teurer.
Ich werde jeden Abend einen Beitrag veröffentlichen, was wir gegessen haben, was es gekostet hat und welche Gedanken und Gefühle uns begleiten.
Ihr seid herzlich eingeladen, unseren Versuch zu begleiten. Vielleicht hat der Ein oder Andere bereits ein ähnliches Experiment gewagt oder ist/war tatsächlich in der Situation aus wenig Geld viel zu machen. Ich würde mich freuen, wenn ihr eure Erfahrungen mit mir teilt.