Die erfreulichen Nebenwirkungen einer Langzeitreise durch Europa
(Vor dem Lesen der folgenden Zeilen fragt entweder einen Menschen mit Humor oder überprüft euren Ironiedetektor auf Funktionsfähigkeit.)
Nach 4 Monaten reisen, möchte ich heute eine Warnung aussprechen. Sollten bei euch Reisegedanken präsent sein, schiebt sie zur Seite und zwar schnell. Langzeitreisen hat Nebenwirkungen, die euer ganzes Leben versauen, im schlimmsten Fall ruinieren. Hier kommt die ungeschminkte Wahrheit.
Ganz oft lade ich bei instagram Sonnenuntergangsfotos hoch, dass man schon meinen könnte, ich hätte abends nichts Besseres zu tun. Die Wahrheit? Es stimmt, mir bleibt abends nichts Anderes übrig. Reisen verschlingt jeden einzelnen Cent und ich kann mir einfach keinen 40 Zoll Flachbildschirm leisten, um mich berieseln zu lassen. Ich muss Sonnenuntergänge anschauen und nachts sogar Sternbilder zuordnen. (Meine Kamera lässt nur keine Fotos zu).
Das hat unweigerlich zur Folge, dass ich völlig uninformiert durch die Weltgeschichte reise. Das Weltgeschehen geht an mir vorbei und es hat sich eine bisher nicht gekannte Gelassenheit Platz geschaffen. Es ist mir egal, wer wen heiratet, wer stirbt oder wo Krieg ist. Ich kann es nicht ändern. Durch Zufall erfuhr ich, dass es in Deutschland wohl schwierig war, eine Regierung zu bilden. Das macht mir echt Angst. Ohne dieses Wissen wird mir nicht die Integration in das jammernde Deutschland gelingen. Ich werde ein Außenseiter sein.
Thema Zeitgefühl. Es ist wie ich schon oft schrieb fort. Ohne Anstrengung bekomme ich noch das aktuelle Jahr aufgezählt. Monat benötigt bereits einige Nachdenker, Wochentag oder Datum…Puh, das sollte mich keiner mehr fragen. Uhrzeit kann ich gut anhand des Sonnenstandes schätzen. Das macht sich nicht gut in einer deutschen Bewerbung. „Ich kann zwar abschätzen, wann 8 Stunden rum sind, aber ob ich die täglich arbeite, wann ich beginne, wann ich ende, entscheidet ausschließlich mein Biorhythmus.“ Das hört kein Arbeitgeber gern vermute ich.
Das Reisen hat mir ebenso die Vorfreude auf meinen 2wöchigen Jahresurlaub genommen. Reisekatalog durchblättern, schickes Hotel aussuchen, völlig gestresst ankommen, mit einem großen Wäscheberg zurückkommen und erzählen können, wie toll das All inclusive Buffet war. Nie wieder werde ich dabei Freude empfinden.
Viele Länder viele Sprachen. Die deutsche Sprache bleibt auf der Strecke und ihr werdet ein Kauderwelsch aus verschiedenen Sprachen zum Besten geben. Manche Wörter werden die deutsche Muttersprache einfach ablösen. Die deutschen Begriffe werden unwiderruflich im Gehirn gelöscht. Mir fällt gerade nicht ein, was quinta übersetzt heißt und da mir deutsch hier in Portugal nichts nützt, schaue ich auch nicht nach.
Meine Ansprüche werden höher. 8 Sonnenstunden am Tag ist unterstes Limit. Ebenso ist der Ausblick aus dem Wohnmobil sehr entscheidend. Der nächste Nachbar sollte mind. 1 km entfernt sein.
Konsumverhalten: Ich habe überhaupt keine Freude am shoppen mehr. Stattdessen renne ich durch Wälder oder Kilometer um Kilometer am Strand oder sitze stundenlang meditierend auf einem Stein.
Ich habe gelernt mir sehr wenigen Dingen zu leben. Ich bin die Spaßbremse der Konsumgesellschaft. Die einzige Sicherheit im Leben: GELD verliert bei mir nach und nach an Bedeutung. Ich werde bald ohne Sicherheiten leben. Ein Leben, das nicht darauf ausgerichtet ist, Geld zu verdienen, sondern darauf SPAß am Leben und der Arbeit zu haben. Unvorstellbar schrecklich.
Ich werde sensibler. Klar, haben mich Fotos von hungernden und durstenden Menschen berührt, kurzzeitig. Ebenso wie Fotos gequälter Tiere. Nun sehe ich es beinahe täglich live und in Farbe. Es beschäftigt mich längerfristig und ich suche nach Lösungen, die ich bereitstellen kann, um das Elend zu lindern.
Ich habe seit geraumer Zeit diesen entspannten Gesichtsausdruck und die Mundwinkel sind die meiste Zeit zu einem leichten Lächeln verzogen. Ich muss mir das Abtrainieren, denn das in Deutschland, vor allem in Hannover und ich kann schon mal Hallo zur geschlossenen Psychiatrie sagen. Überhaupt lache ich viel zu viel. Dermaßen entspannt ist kein Deutscher. Man wird mir meine Staatsbürgerschaft aberkennen.
Das sind einige Punkte an denen ihr sehen könnt, wie radikal sich das Leben ändert. Welche Einschnitte man durch Reisen in Kauf nehmen muss. Überlegt es euch gut. Die Veränderungen sind irreversibel.